Spezifisches Krafttraining im Eishockey: Teil 3 – Case Study Marius Erk (EC Bad Nauheim)
25. Oktober 2017“There are no shortcuts to long-term physical development or elite-level athletes.”
Wie man das Wissen aus den ersten beiden Beiträgen der Reihe (Teil1 , Teil 2) in die Praxis übertragen kann, werde ich am Beispiel der Off-Season 2017 von Marius Erk vom EC Bad Nauheim darstellen:
Insgesamt hatte Marius 14 Wochen Zeit, um sich auf die Saison 2017/18 vorzubereiten. Diese teilte ich wie folgt auf:
- Phase 1 – Akkumulationsphase (Hypertrophie, Dauer 4 Wochen)
- 2-wöchiges Trainingslager Finnland
- Phase 2 – Transmutationsphase (Maximal- und Schnellkrafttraining, Dauer 6 Wochen)
- 9 Tage Urlaub
- Phase 3 – Realisationsphase (Maximal- und Explosivkrafttraining, Dauer 2 Wochen)
Aufgrund des Trainingslagers und des Urlaubs bot sich ein geblockt-periodisiertes Vorgehen perfekt an. Vor allem die Dauer und der Zeitpunkt des Urlaubs waren ideal, damit sich die körperlichen Anpassungsprozesse an die Transmutationsphase entfalten konnten. Man kann im Anschluss an eine Maximalkraftphase von 7-10 Tagen Regenerationszeit ausgehen, bis sich die Trainingseffekte maximal ausgeprägt haben [1]. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass speziell im Leistungssport ein geblocktes Vorgehen einer linearen (und teilweise auch wellenförmigen) Periodisierung überlegen ist [2,3].
Um die Effektivität der einzelnen Trainingsphasen zu überprüfen und das weitere Training systematisch planen zu können, muss eine regelmäßig Leistungsdiagnostik durchgeführt werden. Dabei sollten die für den Sport relevanten Leistungsparameter unter standardisierten Bedingungen getestet werden. Aufgrund der vorangegangenen Analyse eishockeytypischer Bewegungen testete ich mit Marius folgende Parameter:
- Körperzusammensetzung (Bioimpedanzanalyse, nüchtern, morgens)
- Leistung im SJ und CMJ (myJump 2 App)
- 1RM in der Kniebeuge (Hüftgelenk unter Kniegelenk, kontrollierte Exzentrik)
- 1RM Bankdrücken (Gesäß durchgehend Kontakt mit der Bank, Stange berührt die Brust, kontrollierte Exzentrik)
- maximale Anzahl an Klimmzügen im Neutralgriff (kein Beineinsatz, kein Schwung holen etc.)
Ergebnisse Leistungsdiagnostik
Anmerkung: Am Ende der zweiten Trainingsphase (27.06.2017) habe ich bewusst auf eine Testung der Maximalkraft verzichtet. Aufgrund des anschließenden Urlaubs nutzte ich die komplette Phase, um Marius in ein geplantes “Overreaching” zu bringen. Dabei handelt es sich um ein bewusst in Kauf genommenes Übertraining, auf welches eine ausgeprägte Erholungsphase (9 Tage Urlaub…) und anschließend eine deutliche Leistungssteigerung folgen (Vgl. [1]).
Phase 1 – Akkumulation
Die ersten 4 Wochen trainierte Marius nach dem German Volume Training (GVT) in abgewandelter Form. Dabei war das primäre Ziel die im Verlauf der Saison verlorene Muskelmasse wieder aufzubauen und durch die Hypertrophie eine Steigerung der Maximalkraft (1RM) zu erreichen. Allerdings war in einer aktuellen Studie das GVT-Trainingsprotokoll (10×10 Wdh., ca. 60% 1RM) einem klassischen Hypertrophietraining (5×10 Wdh., ca. 60% 1RM) unterlegen, und das bei vergleichbaren Trainingslasten. Auch wenn sich das GVT bei Marius bewährt hat, muss aufgrund der Studienergebnisse kritisch hinterfragt werden, ob ein geringeres Volumen (4-6×10 Wdh.) bei höherer Intensität (80% 1RM) nicht als effektiver anzusehen ist. Die höhere Intensität würde vermutlich zu einer vermehrten Hypertrophie der schnellen Muskelfasern (Typ IIa) führen und wäre somit als zielführender in der Entwicklung der Schnellkraft anzusehen.
Dennoch zeigen die Ergebnisse der Leistungsdiagnostik, dass Marius bereits nach 4 Wochen Training mit relativ niedrigen Gewichten (max. Trainingsgewicht Kniebeugen 85kg) seine Bestleistung in der Kniebeuge und im Bankdrücken aus der Off-Season 2016 bestätigen oder sogar übertreffen konnte. Das zeigt, welchen großen Einfluss ein Hypertropheitraining bereits nach 4 Wochen auf die Maximalkraft haben kann. Die Abnahme der CMJ Leistung ist zu diesem Zeitpunkt nicht verwunderlich, die Gründe hierfür (höheres Körpergewicht, keine nennenswerte Verbesserung des Kraftanstiegs) habe ich im zweiten Teil der Beitragsreihe erläutert.
Phase 2 – Transmutation
Im Anschluss an Phase 1 und ein 2-wöchiges Trainingslager bei Pro Prospect Ltd. in Finnland kam der erste entscheidende Block zur Verbesserung der Schnellkraft. Der Hauptteil des Trainings bestand aus 2x pro Woche durchgeführtem Schnellkrafttraining (CMJ mit Hexbar, 6-8 Sätze á 3 kontinuierlichen Wdh., 1 Minute Satzpause) und schweren Kniebeugen (3-6 Sätze á 3 Wdh. mit maximal explosiver Kraftentfaltung, Satzpausen min. 5 Minuten) zur Verbesserung der intramuskulären Koordination.
Außerdem wurden weiterhin Hypertrophiereize in Nebenübungen wie Bulgarian Split Squats, Glute-Ham-Raises und im Rumpfkrafttraining gesetzt. Neben dem Krafttraining führten wir noch 2 Einheiten Sprint- und Sprungkrafttraining mit zunehmend spezifischeren Sprungformen durch.
In einer Transmutations-Phase ist das Trainingsvolumen typischerweise am höchsten [3]. Neben den aufgeführten Trainingsinhalten mussten natürlich auch die Energiesysteme entwickelt werden (siehe Bild 🙂 ) und Marius führte zusätzlich noch regelmäßig Technikeinheiten durch (Schusstraining). Trotz des hohen Volumens und des geplanten Overreachings konnte Marius in dieser Phase seine Leistung im CMJ um fast 2cm steigern.
Phase 3 – Realisation
In Phase 3 setzte ich ein Komplextraining mit schweren Kniebeugen und zusätzlichem Bandwiderstand kombiniert mit klassischen Sprungformen ein. Es gibt Hinweise darauf, dass ein zusätzlicher Ketten- oder Bandwiderstand zu höheren Anpassungen des Kraftanstiegs führt, als freie Gewichte alleine [4, 5]. Im Komplextraining wird eine s.g. posttetanische Potenzierung ausgenutzt, um einen gesteigerten Schnelligkeits-/Schnellkraftreiz setzen zu können [6]. Dabei führen die schweren Kniebeugen zu einer gesteigerten neuronalen Ansteuerung (und somit Leistung) während der Sprünge. Wenn man ein Komplextraining durchführt müssen die Pausenzeiten zwischen Kraftübung und Sprungform unbedingt eingehalten werden. Häufig lese ich in diesem Zusammenhang, dass die Sprünge direkt im Anschluss an die Kniebeugen durchgeführten werden sollen. Zu diesem Zeitpunkt überwiegen die ermüdenden Effekte aber mit Sicherheit noch die potenzierenden. Die optimalen Pausenzeiten scheinen aber individuell sehr unterschiedlich auszufallen. Als Orientierung würde ich mindestes 5 Minuten Pausenzeit empfehlen.
Außerdem führten wir weiterhin 2x/Woche ein eishockeyspezifisches Sprint-/Sprungtraining durch. Aufgrund der in Teil 2 genannten Parameter Gelenkswinkelgeschwindigkeit, Kraftvektoren, Bodenkontaktzeiten und Arbeitsweise der Muskulatur eignen sich Sprungformen (im Vgl. mit Übungen aus dem Krafttraining) wesentlich besser um den Antritt annäherungsweise zu simulieren. Zum Beispiel zeigt folgendes Bild eine Sprungform, welche sich an den Bedingungen der Beschleunigungsphase orientiert:
Step-ups mit rein konzentrischer Kraftentfaltung (Arbeitsweise der Muskulatur), primär linearer Knie-/Hüftextension, aber zusätzlicher (leichter) lateraler Verschiebung des Körperschwerpunktes gegen den Zug des Gummibandes von unten/hinten (Kraftvektor).
Folgendes Video zeigt eine Sprungform, welche an die Bedingungen in der Phase maximaler Geschwindigkeit angepasst ist:
Durch das Ausführen von Skaterjumps am Hang ist eine Oberkörpervorlage, als Merkmal schnellerer Eishockeyspieler, möglich. Zusätzlich erfolgt ein mehr lateraler Abdruck durch Hüftabduktion und näherungsweise spezifischen Gelenkwinkeln, Bodenkontaktzeiten und Winkelgeschwindigkeiten.
Nochmal: Ein wirklicher Transfer gesteigerter Kraftqualitäten auf die Zielbewegung (vor allem bei schnellen Bewegungen) kann nur durch die Ausführung der Zielbewegung selbst erfolgen [7]! Da dies ohne ein parallel durchgeführtes Eistraining nicht möglich ist, sollen die eingesetzten Sprungformen den Transfer beim Wiederbeginn des Eistrainings erleichtern.
Insgesamt führten die beiden letzten Trainingsphasen zu einer nochmals gesteigerten Kniebeugeleistung auf 150kg (+15kg im Vgl. Off-Season 2016) und somit zu einer Relativkraft von 1,8x Körpergewicht. Die Leistung im CMJ, als Bewertung der Schnellkraftfähigkeit, stieg in der letzten Phase nochmals deutlich auf 57,26cm (+2,16cm im Vgl. Off-Season 2016) an. Somit haben sich die relevanten Leistungsmerkmale einer hohen Relativkraft und einer guten Schnellkraftfähigkeit der Beinstreckerschlinge im Verlauf der Off-Season deutlich verbessert. Körperlich konnten wir dem langfristigen Ziel von ca. 86kg wieder näher kommen, und das bei einem optimalen Körperfettanteil von 10%.
Fazit und Ausblick
Seit dem Beginn unserer Zusammenarbeit 2015 hatte ich die Möglichkeit Marius’ athletische Entwicklung über 3 (Off-)Seasons zu steuern. In dieser Zeit hat Marius knapp 6kg Muskelmasse aufgebaut, seinen In-Season Körperfettanteil um 2% gesenkt, seine Leistungen im CMJ um insgesamt 10,6cm(!), in der Kniebeuge um 50kg und im Bankdrücken um 30kg verbessert. Solche Veränderungen sind aber nur durch ein langfristiges, individuelles und systematisches Training zu erreichen. Allgemeine Trainingsprogramme aus dem Internet oder entsprechender Literatur lassen dabei zu viele individuelle Variablen unberücksichtigt. Sie führen höchstens im Anfängerbereich zu Trainingsfortschritten, welche in einer gesteigerten Leistungsfähigkeit auf dem Eis resultieren.
Die in der Off-Season erreichten strukturellen Veränderungen des neuromuskulären Systems sollten unbedingt über ein intelligent strukturiertes In-Season Training zu mindestens 90% erhalten werden. Einerseits kann der Athlet dadurch seine maximale Leistungsfähigkeit über den Verlauf der Season erhalten und andererseits kann nur so die langfristige Entwicklung eines Athleten (über mehrere Off-Seasons) garantiert werden. Natürlich kommt es letzten Endes auf die Leistung auf dem Eis an, welche von vielen weiteren Einflussfaktoren (Technik, Taktik, Psyche usw.) abhängt. Ein gutes Kraft- und Konditionstraining legt aber die Basis um das technische und taktische Potenzial voll auszuschöpfen. Deshalb möchte ich diese Beitragsreihe mit folgenden Zitaten/Presseberichten schließen:
- Antwort des Cheftrainers des EC Bad Nauheim Petri Kujala auf die Frage wer innerhalb des Teams die Aufsteiger der Saison waren: “Da würde ich in erster Linie unseren Verteidiger Marius Erk nennen. Er hat sich im Laufe der Saison stark nach vorn gespielt und als 20-Jähriger neben einem soliden Defensivpart gegen Ende auch Offensiv-Qualitäten gezeigt (…).”
- Wetterauer Zeitung, 4.12.2017: “Marius Erk spielt eine starke Runde. Der 21-Jährige hat den Übergang von der Oberliga in die DEL 2 gemeistert und ist beim EC Bad Nauheim die Entdeckung der Saison.”
- Hockeyweb.de, 6.12.2017: “Es ist ja nicht so, dass es keine Talente gibt, die dem Frankfurter Nachwuchs entspringen. Schön zu wissen ist, dass ein Marius Erk, der seine Jugend-Laufbahn bei den Young Lions Frankfurt sowie in Folge beim Löwen-Nachwuchs e.V. absolvierte, bevor er zwei Jahre bei den Kölner Haien gefördert wurde, in der DEL2 Fuß gefasst hat und dort nicht lediglich als Hinterbänkler Reihen auffüllt, sondern sogar seine Eiszeit bekommt. (…) Umso schmerzhafter für Romantiker erscheint, dass dieser ausgerechnet 35 Kilometer nördlich das Trikot des EC Bad Nauheim trägt und dort seine ersten Schritte im Profi-Eishockey macht. Wohlgemerkt: im Trikot des Lokalrivalen.”
Quellenangabe
[1] Schlauberger, Schmidtbleicher, Zeitlich verzögerte Effekte im Krafttraining, 1998.
[2] Fröhlich et al, Outcome-Effekte verschiedener Periodisierungsmodelle im Krafttraining, 2009.
[3] Issurin, Block Periodization: Breakthrough in Sports Training, 2008.
[4] Stevenson et al, Acute Effects of Elastic Bands during the Free-Weight Barbell Back Squat Exercise on Velocity, Power and Force Production, 2010.
[5] Soria-Gila et al, Effects of Variable Resistance Training on Maximal Strength: A Meta-Analysis, 2015.
[6] Schmidtbleicher, Güllich, Zusammenhang Explosivkraft- und H-Reflex-Potenzierung, 1995. <- Eine der besseren Untersuchungen zum Thema Komplextraining.
[7] Young, Transfer of Strength and Power Training to Sports Performance, 2006.